Kreativität als angewandtes Querdenken 

Paolo Bianchi und Gabrielle Schmid sind zugleich als Dozenten und kreative Coaches an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK tätig. Sie unterrichten das CAS Creationship, ein Angebot, das sich an all jene Personen richtet, die ein innovatives Projekt mit Hilfe kreativer Methoden in die Welt setzen möchten und gleichzeitig die eigene Persönlichkeitsentwicklung im Auge haben. Es geht um eine anregende Synthese zwischen Tun und Sein.

About Paolo Bianchi and Gabrielle Schmid

Paolo Bianchi, Gründungsleiter CAS Creationship und Dozent im Departement Kulturanalysen und Vermittlung an der ZHdK, Kurator, Kulturpublizist und Kreativitätsforscher.

Gabrielle Schmid, Co-Leiterin CAS Creationship, Coach, Supervisorin und Kreativitätstrainerin.

Kreativität ist ein verlockender, aber vager Begriff. Was verstehen Sie darunter? 

Paolo Bianchi: Ich verstehe Kreativität als Ressource, als menschliches Vermögen, das aktiviert und gefördert werden kann. In unserem Bildungsangebot arbeiten wir mit dem Begriff des angewandten Querdenkens. Dieser Begriff impliziert, dass Kreativität ein Akt und keine Sache ist. Angewandtes Querdenken ist ein Um-die-Ecke-Denken, das Routinen transformiert. 

Gabrielle Schmid: Kreativität ist mit einer Haltung verbunden. Als Kreativitäts-Coaches bereiten wir gemeinsam mit einem Gegenüber den Boden vor, in dem kreative Kompetenzen wurzeln und auf dem eine Haltung der Offenheit für neue Erfahrungen wachsen kann.  

Manche Pädagogen sind überzeugt, dass Lernen per se ein kreativer Prozess sei. Was halten Sie davon? 

PB: Der Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden kann mehr oder weniger kreativ sein. Wo Aneignungsverfahren im Zentrum stehen, es etwa darum geht, Buchhaltung oder Excel zu vermitteln, dürfte es weniger kreative Momente geben. Von Kreativität würde ich erst sprechen, wenn sich ein Prozess der Transformation ereignet.  

Wie kann man solche Transformationen in Gang setzen? 

GS: Wichtig ist, ein Gefäss oder einen Raum für Experimente zur Verfügung zu stellen. Wenn eine Gruppe diesen Raum ohne bestimmte Zielvorgaben als Freiraum für Versuche und Entdeckungen nutzt, kommen kreative Prozesse in Gang. Jede und jeder bringt den eigenen Rucksack voller Erkenntnisse und Erfahrungen mit und macht sich mit Hilfe kreativer Methoden auf die Suche, ohne genau zu wissen, wo die Reise enden wird. Es ist eine Art Schatzsuche, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit der eigenen Potentialentfaltung steht. Kreativitätsmethoden sind nur wirksam, wenn es gelingt, sich zu einem übenden Wesen zu machen, das sich fortwährend selbst herausfordert.  

Was bedeutet das für Ihre Rolle als Dozenten? 

GS: Angewandtes Querdenken braucht Möglichkeitsräume, in denen handlungs- und erfahrungsorientiert gelernt werden kann. Als Dozenten versuchen wir, die Grundhaltung zu vermitteln, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt, Dinge zu erfassen und Probleme zu lösen. Heinz von Förster hat einmal das Prinzip formuliert: «Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten grösser wird». Das ist ein gutes Motto für die Förderung von und Forderung nach Kreativität. 

Wie stellt man es an, angewandtes Querdenken als Haltung zu vermitteln? 

PB: Es braucht erstens einmal Zeit, also die Bereitschaft, sich auf eine mehrmonatige Reise einzulassen, Umwege zu gehen, sich auch mal zu verlaufen. Querdenken entsteht durch Ausprobieren und Experimentieren, durch Trial and Error, so auch durch die Gegenwärtigkeit von Zufällen. Im Weitern spielt das Unmögliche eine Rolle. Darin zeigt sich, was überhaupt erst möglich ist.  

Kreativität wird oft auch als Inspiration verstanden, die einem zufällt, wenn man sich entspannt in die Hängematte legt. Sie sprechen aber von Querdenken. Was ist das für eine Form des Denkens? 

PB: Es ist ein Crossover-Denken zwischen den Disziplinen, das von Paradoxien lebt. Gegensätze sind der eigentliche Königsweg zur Kreativität. Und umgekehrt: Die Art, wie jemand mit Widersprüchen umgeht, ist ein Indiz für die Ausprägung seines Kreativitätsprofils. Studien belegen, dass die Toleranz für das Sowohl-als-Auch sowie die Beweglichkeit im Umgang mit Gegensätzen elementare Merkmale kreativer Persönlichkeiten sind. Der Kontrast ist die Grundlage für kreatives Sein und Tun. 

Gegen Hängematten ist übrigens nichts einzuwenden, aber sie sollten vielleicht aus Stacheldraht sein. Beim Querdenken braucht es nämlich einen gewissen Widerstand gegenüber Erwartungen und Gewohnheiten. 

Im Bildungskontext und in der Wirtschaft mehren sich die Stimmen, die Kreativität für eine wichtige Schlüsselkompetenz der Zukunft halten. Wird Kreativität tatsächlich wichtiger oder ist das Interesse daran nur eine vorübergehende Mode? 

PB: Kreativität scheint tatsächlich an Bedeutung zu gewinnen. Im aktuellen Ranking des Weltwirtschaftsforums WEF über die wichtigsten Kompetenzen steht Kreativität neben kritischem Denken und Problemlösekompetenz zuoberst auf der Liste. Bisher haben Wirtschaft und Bildung eine gewisse Einseitigkeit kultiviert, das rationale Denken wurde wesentlich stärker gefördert als emotionale, künstlerische oder spielerische Zugänge zu Wissen und Handeln. Die Probleme werden aber immer komplexer, und allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass Ratio ohne Creatio dieser Komplexität nicht gewachsen ist. Also ja, Kreativität gewinnt tatsächlich an Bedeutung, was keine blosse Modeerscheinung ist, sondern für ein existenzielles Grundbedürfnis steht. 

GS: Die Hirnforschung bestätigt diese Einschätzung. Kreativität ist eine grundlegende Ressource, die wir zum Überleben brauchen. Darwin war überzeugt, dass nicht die Stärksten überleben werden, sondern die Kreativsten, die Vielfältigen, die sich am agilsten anpassen können.  

Wird Kreativität also vom Luxusgut zu einer Grundkompetenz, über die jeder verfügen sollte? 

PB: Der Megatrend geht in diese Richtung, ja. Aber zur allgemeinen Norm erklären sollte man Kreativität nicht. Das stünde in Widerspruch zum Wesen der Kreativität, das auf Neugier, Offenheit für neue Erfahrungen, Unabhängigkeit, Eigensinn und Flexibilität beruht. 

An unseren TRANSIT-Veranstaltungen wurden Szenarien für die Zukunft der Erwachsenenbildung skizziert. Zum Thema Kreativität entstanden drei Szenarien: Slow Learning als Lernen ohne vordefinierte Lernziele und Zertifikate; das Schaffen von Möglichkeitsräumen, in denen experimentiert und Neues ausprobiert werden kann; Lernformate, die von Lehrpersonen und Lernenden in kollaborativer Form gemeinsam entwickelt würden. Sind diese Ideen aus Ihrer Sicht geeignet, um Kreativität in der Erwachsenenbildung zu fördern? 

GS: Ich denke, dass diese Ansätze sinnvoll sind. Möglichkeitsräume, die Experimente zulassen und eigenständiges Denken fördern, tragen dazu bei, Kreativität zu unterstützen. Auch kollaborative Ansätze scheinen mir vielversprechend, wobei ich aber meine, dass das Einbringen von Wissen durch Fachleute und Expertinnen Bestandteil solcher Prozesse sein sollte. 

PB: Ich finde die Szenarien der TRANIST-Veranstaltung spannend, sehe darin aber ein Problem: Die Szenarien wenden sich von etwas Bestehendem ab und etwas Neuem, noch Undefiniertem zu. So besteht die Gefahr, dass man neue Trends setzt und ihnen folgt, bis man plötzlich merkt: Hoppla, das taugt vielleicht doch nicht als Ersatz für das bisherige Modell. Und unversehens findet man sich im konventionellen Setting wieder und das schöne Szenario war nur ein kurzlebiger Trend. 

Statt sich nur vom Alten ab- und dem Neuen zuzuwenden, wäre es ratsam, mit Gegenbegriffen und Gegensätzen zu arbeiten. Ich würde versuchen, einen alchemistischen Prozess in Gang zu setzen, der das Traditionelle und das Progressive mit allen ihren Widersprüchen aufeinandertreffen lässt. Wir suchen in unseren Angeboten nach der Ergänzung von Gegensätzen, damit sich Unvereinbares in einer Vereinigung wiederfindet. Ein Angst-Seminar wird mit der Erstellung eines eigenen Mut-Profils kontrastiert. Ziel ist die Sicht aus Ganze. 

Wie sähe das konkret in Bezug auf die Szenarien aus? 

PB: Beim Szenario mit den kollaborativen Formaten zum Beispiel würden wir sagen: Den partizipativen Aspekt integrieren wir in den Unterricht, indem wir ein Spielfeld für kollaboratives Experimentieren eröffnen. Wir legen quasi einen Teppich aus, auf dem das Neue entstehen kann. Das kollaborative Setting würde somit komplementär zum hergebrachten Setting stehen. Wir verwenden die Komplementarität als kreatives Prinzip, versuchen Verschiedenes und Diverses zusammenzufügen.  

GS: Wenn man Kreativität als Spiel mit paradoxalen Gegensätzen versteht, arbeitet man immer mit einem Sowohl-als-Auch, am wichtigsten ist das, was zwischen den Polen passiert. Es geht nicht darum, sich für A, B oder C zu entscheiden, sondern um eine Vielfalt an wechselnden Kombinationen zwischen A, B und C. Hier geschieht der Sprung von einer bisherigen in eine neue Denkebene. Das ist der eigentliche Geistesblitz.  

Mit anderen Worten: Indem die alten Räume bestehen bleiben und zu den neuen in Beziehung gesetzt werden, entsteht ein Wirkungsfeld für kreative Entwicklungen. Kreativität wird oft mit divergentem Denken gleichgesetzt. Es braucht aber beides, das konvergente und das divergente Denken, wichtig ist ihr Zusammenspiel, kurzum: das freie Spiel der Gegensätze. 

Literatur 

Paolo Bianchi (Hrsg.): Ressource Kreativität. Anstiftungen zum Querdenken, erschienen als Band 250 von «Kunstforum International», Köln 2017. 

Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2011. 

Hans Ulrich Reck: Kritik der Kreativität, Herbert von Halem Verlag, Köln 2019. 

Doris Rothauer: Kreativität. Der Schlüssel für eine neue Wirtschaft und Gesellschaft, Facultas Verlag, Wien 2016.