Die unmittelbare, sinnliche Erfahrbarkeit bleibt zentral

Erik Haberzeth äussert sich über Lernräume und den Wert der Wissenschaft für die Praxis der Weiterbildung.

About Erik Haberzeth

Erik Haberzeth is Professor of Higher Vocational and Professional Education and Adult Education at the Zurich University of Teacher Education (PHZH).Erik Haberzeth ist Professor für Höhere Berufsbildung und Weiterbildung an der pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH).

Sie haben an der Veranstaltung des Think Tank Transit im Januar 2019 einen Workshop zu Lern- und Erfahrungsräumen geleitet. Inwiefern sind Räume ein Thema für die Zukunft der Weiterbildung?

ERIK HABERZETH: Die Nutzung der unterschiedlichsten Räume als Lernräume war immer ein zentrales Thema der Erwachsenenbildung. Im Gegensatz zur Schule war die Erwachsenenbildung nie auf ein Gebäude mit Unterrichtsräumen konzentriert. Es gab immer eine Vielfalt an Lernräumen: der Betrieb, die Bibliothek, Lernen auf Reisen, Planetarien und Zoos, der Verein usw. Das war so und wird auch so bleiben. Das macht die Erwachsenenbildung so vielfältig und spannend. Schon seit Längerem kommen auch «virtuelle Räume» hinzu. Mit dem Internet entwickelten sich Anfang der 2000er Jahre zum Beispiel «Web Based Trainings», um 2005 kamen «Web 2.0»-Anwendungen auf, die sich durch Möglichkeiten der Mitgestaltung auszeichneten. Heute werden Möglichkeiten des «Mobile Learning» oder von «Massive Open Online Courses (MOOCs)» oder «Webinaren» diskutiert und erprobt.

Es muss aber doch ein Gemeinsames geben, das all diese Räumen erfüllen müssen.

Natürlich. Wir müssen die Räume unter ganz bestimmten Gesichtspunkten betrachten. Wir müssen uns fragen, welche thematischen Lernanlässe unterschiedliche Orte der Lebens- und Arbeitswelt bieten, welches Lernen sie ermöglichen und wie Lernen dort unterstützt wird, wie Lernmöglichkeiten gestaltet werden und welche Rolle die sinnliche Erfahrbarkeit von Dingen spielt, wie sie gerade für «alternative», nicht-seminaristische Lernorte kennzeichnend ist.

Interessanterweise haben die Teilnehmenden des Workshops in der Diskussion vor allem Szenarien für analoge Räume entwickelt. Hat Sie das überrascht?

Ja und nein. Ja, weil überall von virtuellen Räumen geredet wird und davon, wie bedeutsam diese sind oder bald werden könnten. Lernen wird immer und überall ganz einfach möglich. So zumindest die Vorstellung. Hier setze ich aber auch gleich mit meiner Kritik an. Worüber reden wir: über Webinare, E-Learning, Video, vielleicht Virtual Reality? Ich finde diese Lehrformen durchaus spannend, natürlich auch die Möglichkeiten, die das Internet bietet, wozu auch Social Media gehört. Aber am Ende ist das alles doch nicht so wahnsinnig interessant. Interessanter ist es, über gute Lernmöglichkeiten nachzudenken, und diese sind in vielen Fällen nicht virtuell. Die unmittelbare, sinnliche Erfahrbarkeit bleibt für viele Lerngegenstände und viele Menschen zentral.

“Wenn immer und überall gelernt werden kann, braucht es die Institutionen nicht mehr.”

Und doch kann theoretisch heute überall losgelöst von dieser sinnlichen Erfahrbarkeit gelernt werden.

Damit verbunden sehe ich konkrete Gefahren: Wenn immer und überall gelernt werden kann, braucht es die Institutionen nicht mehr – und damit im Grunde auch die Lehrenden nicht mehr. Wir wissen aber aus der Forschung, dass selbstgesteuertes Lernen höchst störanfällig ist. Die Bildungsinstitutionen und ihre Leistungen bleiben daher absolut zentral. Und Wissen als Infor­mation im Internet ist auch längst nicht alles. Es braucht die Kontextualisierung, die Anwendung und den Austausch mit anderen.

Virtuelle Räume haben das Potenzial, ganz neue Erfahrungen zu vermitteln, die analog nicht vermittelbar sind. Wäre das nicht eine Bereicherung?

Bestimmt. In technischen Bereichen oder in der Medizin passiert das ja auch. In der Erwachse­nenbildung fehlen, soweit ich es überblicke, weitgehend die Erfahrungen, obwohl zum Beispiel Volkshochschulen heute schon Kurse anbieten, bei denen man, anstatt ins Museum zu gehen, einen virtuellen Rundgang macht. Ich weiss aber nicht, ob das wirklich ein Ersatz für das reale Erlebnis darstellt. Jedenfalls wäre es wünschenswert, pädagogische, und nicht etwa ökonomische Erwägungen anzustellen, wenn es um die Entscheidung analog vs. virtuell geht. Zudem läuft es am Ende sowieso auf sinnvolle Kombinationen hinaus.

Sie sind also eher ein Skeptiker der Möglichkeiten virtueller Räume.

Lernen bleibt Lernen. Bloss weil etwas in einem virtuellen Raum stattfindet, läuft es nicht von allein. Oft wird das Googeln eines Begriffs bei Wikipedia schon als Lernen bezeichnet. Menschliches Lernen in einem anspruchsvolleren Sinn meint aber mehr als das. Erlebnisse und Erfahrungen müssen angeeignet werden, sie müssen verarbeitet und begriffen werden. Ein Internetanschluss allein löst das noch nicht ein.

Wie würden Sie den Weiter­bildungsraum der Zukunft beschreiben?

Lassen sie mich so antworten: Im Weiterbildungsraum der Zukunft gibt es angemessene rechtliche, finanzielle und institutionelle Bedingungen, die es jedem und jeder jederzeit erlauben, das zu lernen, was gebraucht wird. Gerade die Politik ist hier ge­fordert, aber sicher nicht nur: Es braucht eine öffentliche Verantwortung.

Und davon sind wir noch deutlich entfernt?

Der Begriff der öffentlichen Verantwortung umfasst natürlich nicht nur den Staat, sondern alle zentralen gesellschaftlichen Akteure wie die Betriebe und die Individuen. Ich denke, die Weiterbildung müsste ihm Rahmen einer solchen öffentlichen Verant­wortung gedacht werden, eben als An­liegen der gesamten Gesellschaft. Und davon sind wir nicht nur in der Schweiz tatsächlich noch deutlich entfernt.

“Kein Bereich des Bildungssystems erreicht so viele Menschen und so lange wie die Weiterbildung.”

Ist die Bedeutung, die man der Erwachsenenbildung als Forschungsdisziplin beimisst, ebenfalls Ausdruck davon?

In der deutschen Schweiz gibt es gerade einmal zwei Lehrstühle. Es tut sich zwar etwas. Gleich­zeitig gibt es viel zu wenig Forschung. Kein Bereich des Bildungssystems erreicht so viele Menschen und so lange wie die Weiterbildung. Wenn man diese Relevanz sieht, ist es schon erstaunlich, dass man nicht mehr über die Weiterbildung wissen will.

Aber es heisst doch, der Weiter­bildungsmarkt funktioniere.

Ich frage mich allerdings, woran man das festmacht. Nur am Umsatz? Das reicht nicht aus. Es fehlt uns eine ganze Menge an Daten. Wir wissen wenig über das Personal, die Angebote, die Institutionen, die Teilnahme im Detail etc. Und wenn wir etwas wissen, zeigen sich durchaus Defizite. Man stelle sich vor, andere Bildungsbereiche würden so behandelt. Ja, es braucht mehr Forschung und insgesamt mehr Systemwissen, um die Weiterbildung vernünftig gestalten zu können.

Sie bieten diesen Herbst erneut eine Weiterbildung an, mit der Sie Personen aus der Praxis ansprechen möchten. Worin besteht sie?

Wir wollen unser Forschungs­wissen zur Verfügung stellen und gleichzeitig diskutieren. Das Angebot richtet sich an Personen, die Lust auf die Auseinander­setzung mit wissenschaftlichem Wissen der Erwachsenenbildung haben. Es wird z.B. einen Kurs zum «Lernen Erwachsener» geben. Wir schauen uns aber nicht psychologische Lerntheorien an, die schon alle kennen, sondern erwachsenenpädagogische Theorien, die – aus meiner Sicht – angemessener sind.

Sie bieten einen Lektürekurs an. Glauben Sie, die Leute haben Lust zu lesen?

Ich könnte auch eine Vorlesung halten. Aber das bringt den Leuten weniger, als wenn man gemeinsam über Texte diskutiert. Es geht auch darum, die Scheu zu verlieren, sich mit solchen Texten auseinanderzusetzen. Das wäre schon ein schöner Effekt.

Setzen Sie bei den Teilnehmenden etwas voraus?

Interesse. Und natürlich muss man wissen, worauf man sich einlässt.

Was könnten Praktiker besser machen, wenn sie über wissenschaftliches Wissen verfügen?

In den meisten Fällen leisten «Praktiker» sehr gute und engagierte Arbeit. Ich will ihnen auch nicht sagen, wie sie es anders machen sollen. Das wäre nicht möglich, zu vielfältig ist die Praxis und die dort auftretenden Situationen. Man braucht eher ein flexibles, zum Teil auch systematisches Wissen, und das ist wissenschaftliches Wissen nun mal. Der Erwachsenenbildner Hans Tietgens beschrieb Professionalität als die Fähigkeit, breit gelagerte, wissenschaftlich vertiefte und damit vielfältige abstrahierte Kenntnisse in konkreten Situationen angemessen anwenden zu können. Ich bin vom Nutzen wissenschaftlichen Wissens überzeugt, aber nicht in einer simplen Art und Weise, sondern reflektiert.

Sollte die Ausbildung der Ausbildenden generell eine stärkere wissenschaftliche Basis haben?

Wissenschaftliches Wissen macht «sehend». Die Wissenschaft stellt gewissermassen unterschiedliche «Brillen» in Form von Theorien zur Verfügung. Ohne solche Theorien bzw. Begriffe erkenne ich vieles gar nicht.